Von seinem Haus auf dem grünen Nordhügel hat Ibrahim Master einen fantastischen Blick auf Blackburn. Die alte Textilstadt im Nordosten Englands liegt in einem Tal am Fluss Blakewater, aus dem die Mühlen vor langer Zeit ihr Wasser speisten.
Master hat die riesige Stadtvilla, in der fast die ganze Großfamilie Platz findet, vor sechs Jahren gebaut, hochwertiger roter Klinker, feine Sandsteinarbeiten. Es sieht ein bisschen aus wie Kensington Palace in London, wo seinerzeit Prinzessin Diana lebte. Ibby, wie ihn hier alle nennen, ist ein wichtiger Mann in Blackburn. Er war lange Jahre Vorsitzender des Moscheen-Rats von Lancashire und zudem stellvertretender Polizeikommissar – ein politischer Posten. Vor allem aber ist der 58-Jährige einer der wichtigsten „community leader“ der indischen Muslime in Blackburn.
Ibrahim Master ist einer der wichtigsten „community leaders“ der Muslime in Blackburn
„Ich bin strenggläubiger Muslime. Aber ich bin auch sehr weltlich und habe eine sehr positive Haltung zu Nicht-Muslimen, wie es meine Religion von mir erwartet“, sagt Master. Sein Vater, ein Einwanderer aus Gujarat, fing einst als Ladenbesitzer im muslimischen Viertel an; heute besitzt und managt der Sohn mehrere Tankstellen.
Schwiegertochter trägt den Vollschleier – freiwillig
Sein Wohlstand zeigt sich nicht nur im stattlichen Fuhrpark in der Einfahrt zu seiner Stadtvilla. Master ist ein großzügiger Sponsor seiner lokalen Moschee. Auch seine große Familie mit mittlerweile zehn Enkeln ist ein Statussymbol. Eine seiner Schwiegertöchter hat sich vor Kurzem entschieden, den muslimischen Vollschleier zu tragen.
Ibby Master steht stellvertretend für einen wachsenden Teil der britischen muslimischen Gemeinde, deren Einfluss auf das Gesicht dieses Landes nur noch wachsen wird. Beruflich äußerst erfolgreich, mit beträchtlichem Reichtum und einer jungen Generation, die vielfach die besten Schulen und Universitäten besucht.
Gleichzeitig sind diese Muslime extrem konservativ. Den Berufsalltag teilen sie mit Nicht-Muslimen, aber sonst bleiben sie generell unter sich. Sie stecken viel Geld und Engagement in ihre Glaubensgemeinde, über die ihre „leader“ und nicht Politik oder Polizei die Kontrolle haben.
Blackburn ist dafür das beste Beispiel. Die 150.000-Einwohner-Stadt hat die größte muslimische Bevölkerung pro Kopf nach London. Anders aber als Städte mit ähnlich hoher Zahl Migranten, wie Luton, Bradford oder Rotherham, macht Blackburn selten Schlagzeilen mit Berichten über muslimische Extremisten oder Bandenkriminalität.
Warum ist das so? Was läuft in Blackburn anders als in Rotherham, wo junge Mädchen jahrelang von einer Bande von Männern mit Migrationshintergrund systematisch missbraucht und misshandelt wurden? Besuch bei Sayyed Osman, der für Prävention zuständige Kommunalbeamte der Stadtverwaltung. Osman ist der Meinung, dass es an Menschen wie Ibby Master liegt. „Die Gemeinde-Älteren haben eine riesige Macht“, sagt Osman, der sein ganzes Leben hier verbracht hat.
„Ich erinnere mich noch an Zeiten, als sich die Muslime aus Pakistan und Indien bei Einbruch der Dunkelheit in ihren Häusern verbarrikadierten, aus Angst vor rassistischen Übergriffen.“ Der Tory-Abgeordnete Enoch Powell warnte 1968 „vor Flüssen voller Blut“, sollten die Briten keine Kontrolle über die Masseneinwanderung aus dem Empire bekommen. Powell brachte seinerzeit das Königreich zum Beben, seine Rede gilt heute als historisch.
Einwanderung entscheidet Wahlen
Die kurz darauf spürbar verschärften Einwanderungsgesetze zeigten ihre Wirkung. Das Thema Immigration sollte bis in unsere Tage nicht mehr wahlentscheidend werden. Dass die Briten am vergangenen 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union stimmten, hatte auf den ersten Blick vor allem mit der jüngsten Masseneinwanderung nach der EU-Osterweiterung 2004 zu tun. Aber die Abwendung vom Konzept totaler Offenheit findet ihren Grund mit jahrzehntelanger Verzögerung auch in der Entwicklung, die das Land seit den späten 50er-Jahren durchgemacht hat.
Foto: Infografik Die Welt
Blackburn zeigt unter dem Brennglas, wo diese Entwicklung hingehen könnte. Ein Großbritannien, in dem Kulturen und Religionen physisch in nächster Nähe leben, in Wirklichkeit aber verschiedenen Solarsystemen angehören. Wer das verstehen will, mag sich gegen 17 Uhr an einem Wochentag in den Straßen um die Masjide-al-Hidayah-Moschee umsehen. Mittelklassewagen, aber auch teure SUVs brausen auf das Gebetshaus zu. An den Steuern Mütter, die klare Mehrheit von ihnen vollverschleiert, die ihre Kinder zur Gebetsschule, der Madrassa, bringen.
Rund 200 Kinder sind an einem Mittwoch im Frühsommer in der Gebetsschule. Die Jungen in weißen Gebetshemden und -mützen, selbst die ganz kleinen Mädchen ausnahmslos mit Kopftuch. Fünf Tage in der Woche kommen die meisten her, um nach einem Schultag, der erst um 15.30 Uhr endete, noch zwei Stunden Religionsunterricht zu bekommen. Einer der Lehrer deutet auf einen kleinen Schüler, der mit dem Finger die Zeilen des Koran abfährt. „Er ist erst neun, aber er kann schon ganze Kapitel auswendig. Auf Arabisch natürlich!“
Pakistaner fahren Taxi, Inder sitzen hinten
52 Moscheen gibt es im kleinen Blackburn mittlerweile. Die die Stadt dominierenden indischstämmigen Muslime sind in ihrer Mehrzahl Deobandis, streng orthodoxe Sunniten. Sie sind zugleich eine treibende wirtschaftliche Macht in Blackburn. Die Hackordnung in Blackburn ist klar: Die Pakistaner fahren die Taxis, die Inder sitzen im Fonds und managen eine ganze Reihe der wichtigsten Unternehmen der Region: die Papierfabrik Accrol zum Beispiel oder den Großtankstellenbetreiber Euro Garages.
Für die Politik sind die Muslime eine der wichtigsten Wählergruppen, vor allem für die Labour-Partei. „Labour interessiert sich nur für die Immigranten. Die weißen Engländer haben sie vergessen“, bekam zu hören, wer im Wahlkampf vor dem EU-Referendum mit Leuten aus dem klassischen Arbeitermilieu sprach. „Die Muslime sind für die Partei mittlerweile so wichtig wie die Gewerkschaften“, bestätigt ein Lokalreporter in Blackburn, der lieber nicht mit Namen in der Zeitung stehen will.
Da sehen Politiker mitunter auch schon einmal weg und lassen die Muslime Probleme in ihrer Gemeinde „auf ihre Art lösen“. Wohin das führen kann, hat der Rotherham-Skandal gezeigt. In der Stadt in Yorkshire wurden Hunderte minderjährige Mädchen über ein Jahrzehnt von muslimischen Gangs missbraucht. Der Labour-Stadtrat überließ es bewusst den pakistanischen Lokalpolitikern, das Problem vermeintlich zu regeln.
„Was wir in Blackburn sehen, ist die totale Spaltung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen“, warnt der Präventionsbeauftragte Osman, der guten wirtschaftlichen Integration zum Trotz. „Das fängt bei der Bildung an. Die freie Schulwahl hat zur Folge, dass Schulen, die vielleicht vor 15 Jahren noch zu 95 Prozent weiß waren, jetzt zu 90 Prozent muslimisch sind. Und die weißen Briten wandern ab.“
Weiße Arbeiterklasse von Armut betroffen
Sie wandern zum Beispiel nach Mill Hill, nur ein paar Autominuten vom Stadtzentrum entfernt. Die Stadt ist alt-britisch. Arbeitslosigkeit und Armut sind hier spürbar größer als unter den Deobandis. „In ein und derselben Stadt gibt es eine ähnlich wie die muslimische Gemeinde gettoisierte Gruppe – die weiße Arbeiterschicht“, sagt der in Blackburn aufgewachsene Drehbuchautor Abaes Mohammad. „Obwohl sie isoliert voneinander leben, erleben sie dasselbe. Sie sind ausgeschlossen.“
Dass gerade die weißen Briten mit geringer Bildung zunehmend den sozialen Absturz erleben, hat die neue Premierministerin Theresa May in ihrer Antrittsrede klargemacht: Für niemanden in Großbritannien seien die Chancen so gering, eine Universität zu besuchen, wie für einen Jungen aus einer weißen Arbeiterfamilie.
Foto: Getty Images News/Getty Images Eine Mutter im Nikab mit ihrem Kind in Blackburn
Die indischen Muslime in Blackburn wollen zwar auch keine Gettos. Aber sie wollen auch nicht „westlich“ sein. „Was viele unter Integration verstehen, ist, dass ich mich im Pub besaufe und anschließend auf die Straße kotze. Wieso soll ich das tun? Um mein Britisch-Sein zu beweisen? Ich bin hier geboren, ich bin so britisch wie jeder andere. Ich sehe nur anders aus“, sagt Aaliya Patel (Name v. d. Red. geändert). Sie ist knapp über 40, hat ein abgeschlossenes Politikstudium, vier Kinder und fährt einen Porsche Cayenne. Ihr Mann ist Partner in einer großen Beratungsgesellschaft, sie leben in einer Klinkervilla Bastville, einem der teuersten Viertel Blackburns.
Aaliya trägt das Kopftuch eng um den Kopf gebunden, feinste Designer-Kleider verhüllen die schlanke Figur. Ihre Töchter im Teenageralter besuchen die Tauheedul-Mädchenschule. Ein islamisches Gymnasium, dessen akademische Leistungen im ganzen Land ihresgleichen suchen. Die Söhne gehen viermal die Woche in die Madrassa und einmal die Woche zu den Pfadfindern. „Damit sie wenigstens ein bisschen mit Nicht-Muslimen in Kontakt sind. Wir müssen einander besser kennenlernen“, erklärt Aaliya.
Misstrauen gegenüber Muslimen wächst
Alle Umfragen belegen, dass das Misstrauen im Land gegenüber Muslimen durch die Terrorattacken überall in Europa ständig zunimmt. Jüngst behauptete eine Studie zu belegen, dass vier Prozent der Muslime im Land mit Fanatikern sympathisieren, die „im Kampf gegen Unrecht“ Selbstmordattentate verüben….
Quelle:
http://www.welt.de/vermischtes/article157445768/Muslime-geben-in-einer-britischen-Stadt-den-Ton-an.html